Eine Deutsche in Japan

Reflektionen, Erlebnisse, Beobachtungen

Das unbewusste Glücklichsein

2014-08-23 | Gedanken und Reflektionen

Bemerkenswerterweise reden Leute, die in sich ruhen und tätig und einigermaßen zufrieden ihrer täglichen Arbeit nachgehen, nicht über Glück. Sie haben es gar nicht nötig, sich über das Glück, was immer das auch sein mag, Gedanken zu machen. Im Gegensatz dazu analysieren unzufriedene Menschen, meist sogenannte Intellektuelle, die nur mit dem Kopf arbeiten und sich wenig körperlich betätigen, ständig ihr eigenes Leben und Dasein und suchen nach Wegen, um glücklich und zufrieden zu werden.   

Hier zwei typische Exemplare dieser Art von Menschen: 

An der Universität X lehren zwei Professoren im Fach Mathematik: Professor A und Professor B. Sie sind derselbe Jahrgang, sind beide verheiratet und haben beide Kinder. Die äußerlichen Bedingungen stimmen so weit überein. Auch wer diese beiden Professoren sieht, wird zwischen ihnen auf den ersten Blick keinen großen Unterschied feststellen können. Na gut, Professor A ist erfolgreich, er ist in seinem Fach sogar berühmt. Bei ihm möchten viele Studenten studieren, während der Name von Professor B wohl nicht weit über die Grenzen der Universität X hinaus bekannt ist. Aber der “Erfolg” und “Nichterfolg” dieser beiden Männer ist vielleicht eher eine Folge dessen und keineswegs Voraussetzung für das, was man als Glücklich- und Unglücklichsein oder vielleicht auch schlichter nur als Zufriedenheit und Unzufriedenheit bezeichnen kann. 

Professor A vermittelt einen robusten und gesunden Eindruck. In Wirklichkeit hat er einen Leberschaden vom zu vielen Trinken, denn er trinkt gern und maßlos. Aber er beklagt sich nicht und jammert nicht über sein Leiden. Er spricht eigentlich nie darüber, höchstens dann, wenn es bei einem geselligen Zusammensein notwendig ist, eine Entschuldigung vorzubringen, weshalb er einmal mit dem Trinken aussetzen muss. Bei solchen “Entschuldigungen” redet er in einem sich über sich selbst lustig machenden Ton, so dass nicht gleich die ganze Gesellschaft vor Mitleid vergehen oder vor Peinlichkeit verstummen muss, sondern weiterhin heiter und lustig sein kann. Professor A raucht auch sehr viel, Zigaretten oder Pfeife. Seine Kleidung ist leger aber unauffällig: Hose, Hemd, im Winter Pullover und Jackett. Mit Krawatte sieht man ihn so gut wie nie. Im großen und ganzen vermittelt sein Äußeres den Eindruck eines Bauarbeiters, besonders im Sommer, wenn ihm ein schmuddeliges Handtuch, das wohl schon lange nicht mehr gewaschen wurde, aus der Hosentasche hängt. Das braucht er, um sich damit während der Vorlesung den Schweiß von der Stirn abzuwischen. Man sieht ihm den Professor nicht an. Manchmal kommt er unrasiert in die Uni. Bei den Seminaren macht er es sich gemütlich, raucht seine Pfeife, hat die Füße oftmals auf dem Tisch, geht selbst mal an die Tafel, wenn nichts mehr klappt, meckert (was immer nur ein Meckern, aber niemals Ärger oder Wut oder Ungeduld ist), wenn die Studenten nicht vernünftig arbeiten, und lobt eigentlich nie. Seine Zustimmung und sein Lob, wenn ihm etwas gefällt oder amüsiert, äußert sich mehr in einem Brummen, das ganz automatisch aus ihm herauskommt oder in einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Er ist eigentlich immer bei der Sache. Wenn er etwas macht, dann macht er es richtig. 

Nach den Vormittagsseminaren geht er mit den Magisterkursstudenten oder Doktoranden zusammen zum Essen. Er ist nicht wählerisch, was die Speisen angeht. Er hat nichts am Essen auszusetzen und ist gewillt, alles zu probieren. Vornehme Restaurants jedoch mag er nicht. Da fühlt er sich nicht wohl. In Gegenwart von Studenten redet er nie über andere Leute oder die Dinge, die am Institut anliegen, auch nicht über seine privaten Angelegenheiten. Man bekommt bei ihm nie das Gefühl, etwas gehört zu haben, was man besser nicht gehört hätte, auch niemals das Gefühl, dass es da irgendwelche Heimlichkeiten gibt. Wenn er redet, redet er laut und nicht unter vorgehaltener Hand. Er ist nicht neugierig. Für die Privatsachen anderer Leute scheint er kein Interesse zu haben, trotzdem ist er sehr um das Wohl seiner Studenten bemüht. Er lässt sie niemals hängen. Wenn einmal etwas anliegt, ist er bereit zu helfen. Wenn die Sache erledigt ist, wird nicht mehr darüber gesprochen. Die Vergangenheit wird nicht ständig wieder ausgegraben. Der Blick ist stets auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet. In all seinen Bemühungen ist er sehr konstant und niemals überschwänglich. Er hat Humor und scheut sich nicht, bei vielem mitzumachen. Wenn gewandert wird, dann wird gewandert; wenn Schlittschuh gelaufen wird, dann wird Schlittschuh gelaufen; wenn Karten gespielt wird, dann wird Karten gespielt und das aus vollem Herzen und mit ganzer Aufmerksamkeit. Man wird von ihm nicht hören, dass er sich zu alt für etwas hält. Er macht, soviel er kann, seinem Alter und seiner körperlichen Kondition entsprechend. Frauen gegenüber ist er vollkommen neutral. Nie, aber auch niemals, bekommt man bei ihm das Gefühl, dass es da so etwas wie eine Mann-Frau Beziehung geben könnte, dass er eine Frau mit den Augen eines Mannes betrachtet. Als Frau kann man sich in seiner Gegenwart vollkommen unbeschwert und frei fühlen. Man kann ihn vielleicht am treffendsten und kürzesten als einen Mann charakterisieren, der im richtigen Moment das Richtige tut, der in der Gegenwart mit kurzem Blick auf die Zukunft lebt. 

Dagegen nun Professor B. Um es vorweg zu sagen, Professor B ist ein Mann, der die Gabe hat, irgendwie alles verkehrt zu machen. Wenn er einmal etwas für eine Zeit lang richtig gemacht hat, was heißen soll, dass er etwas so gemacht hat, dass er und seine Umwelt sich dabei wohl fühlen können, dann kommt doch ganz bestimmt der Moment, in dem er all seine Bemühungen wieder zunichte macht. Professor B raucht nicht und trinkt nur mäßig, aber dennoch beklagt er sich ständig über seine Gesundheit. An allem gibt es etwas auszusetzen: am Wetter, am Essen, an seinem Zimmer in der Universität, an seinem Haus, an seinem Gehalt, an allem und wirklich allem. Über nichts kann er sich aus ganzem Herzen freuen, an allem wird herumkritisiert und das Negative gesucht. Über sein Leben stöhnt er: bisher sei ihm noch nichts im Leben wirklich gelungen; jetzt sei er zu alt; jetzt sei alles schon zu spät. Wenn man im Gutem mit ihm redet und meint, dass man bei schönem Wetter doch spazieren oder auch einmal schwimmen gehen könne, dann würde die gute Laune sich schon ganz von selbst einstellen, dann kommen die Tausend Wenns und Abers. Obwohl es sich beklagt, sitzt er doch lieber in seiner Unzufriedenheit vor dem warmen Ofen in seinem Zimmer, ohne sich zu bemühen etwas zu ändern. 

Er liebt es, über andere Leute zu reden. Mit vorgehaltener Hand fängt er immer an: “Eigentlich dürfte ich das ja nicht sagen, aber…” Er muss, was er besser nicht sagen sollte, dann doch aussprechen, denn er kann es nicht bei sich behalten. Und dann kommt das Gerede über die Leute am Institut. Die wissenschaftlichen Leistungen von Professor A erkennt er an, aber nach seiner Art kann er es nicht bei einem Lob belassen. Da wird darüber geredet, wie viel Professor A trinkt, dass er sich seine schlechten Manieren, wie Füße auf den Tisch legen, bei einem längeren Aufenthalt in Amerika angeeignet hätte, dass Professor A gestern nicht wegen einer Erkältung sondern eines Katers von der Universität fern geblieben sei, usw, usw.

Professor B hat eine unangenehme Art, durch die Gänge des Instituts zu schleichen. Wenn die Studenten auf dem Korridor stehen und sich unterhalten, bleibt er vor der Anschlagtafel stehen, tut so, als würde er die Nachrichten lesen, lauscht in Wirklichkeit jedoch den Gesprächen der jungen Leute. Vergangenheit kann er nicht Vergangenheit sein lassen. Ständig werden die alten Geschichten wieder ausgegraben, und bezeichnenderweise schaut er nicht auf das zurück, was gut, sondern auf das, was schlecht war. 

Er hat eine Gabe, den Leuten immer wieder auf unangenehme Weise nahezutreten. Er treibt es so weit, dass man sich schließlich angewidert von ihm abwendet. Er bemüht sich anderen Leuten gegenüber, macht Geschenke und lädt zu feinem Essen ein, aber das, was wirklich von Nöten wäre, das tut er nicht. Er begreift gar nicht, dass niemand seine Geschenke braucht, dass man auch ganz gut ohne seine Sorge leben kann, dass einem im Gegenteil diese Geschenke und Sorgen unangenehm und peinlich sind, dass man sich viel mehr darüber freuen würde, wenn er endlich einmal an seiner eigenen Zufriedenheit und Gesundheit arbeiten würde. Denn er sagt ja selbst, dass er sich nicht wohl fühlt, dass ihm bisher noch nichts gelungen sei. Er sagt es, aber irgendwie bekommt man doch das Gefühl, dass er sich in seinem Unwohlsein und seiner Erfolglosigkeit für den sensiblen Mann mit den tiefen Einsichten in das menschliche Leben und Leiden hält. Leute wie Professor A, robust und gesund, was können solche Leute schon von den Feinheiten des Lebens verstehen?! Nur er, der sensible, kränkliche Mann besitzt diese letzten Einsichten; er, der Mann, der sich in seinem stillen Kämmerlein die großen Theorien ausdenkt, der aber, wenn es darauf ankommt, nicht einmal in der Lage ist, ein freundliches Wort mit der Sekretärin zu wechseln oder wie ein ganz normaler Mensch ein Telefongespräch zu führen. Er sagt selbst, dass er es nicht kann. Er fühlt sich unglücklich und unwohl, aber trotzdem findet er keinen Ausweg aus all dem. Er erkennt vieles, denn dumm ist er ja nun wirklich nicht, aber trotzdem bleibt alles beim Alten. Er leidet weiter, macht sich weiterhin in seinem Zimmer allein die Gedanken, bildet sich weiter ein, mehr vom menschlichen Leben zu verstehen als andere, denn keiner leidet ja so viel wie er! Zusammenfassend kann man sagen, dass Professor B ein Mann ist, der sich selbst nur sporadisch wohl fühlt und um sich herum in keiner Weise Freude oder Heiterkeit verbreitet. 

Weshalb nun die Beschreibung dieser beiden Professoren, die als hochintellektuelle Männer bezeichnet werden können?   

Gerade bei Menschen in gesellschaftlich angesehener Position oder mit Doktortitel, von denen der “kleine Mann” immer glaubt, dass sie nun wirklich alles erreicht haben und somit glücklich und zufrieden sein müssten, geben diese beiden Professoren einen Hinweis, dass Zufriedenheit und Wohlbefinden (= Glück?) keineswegs automatisch aus Bedingungen wie Titel, Position, kluger Kopf usw resultieren. Es muss feinere, nicht sofort erkennbare, kompliziertere Mechanismen geben, die einen Menschen ganz unbewusst leiten, ein Leben des Wohlergehens und der Zufriedenheit oder des Gegenteils zu leben.   

Seit über zweitausend Jahren bemüht sich der Mensch, diese Mechanismen aufzudecken. In den vielen Büchern, die über die Wege zum “Glück” geschrieben worden sind, stehen schöne Ratschläge. Aber haben die viel geholfen? Ich habe den Eindruck: nicht.


Renge Thermalquellen - 蓮華温泉

2014-08-19 | Bergwandern

Renge Thermalquellen, 1470 m, Niigata Präfektur

Baden in heißen Quellen – das ist für Japaner das Nonplusultra der Entspannung. 

Japan ist ein Vulkanland. Thermalquellen gibt es so gut wie überall. Sehr beliebt sind Freiluftbäder (露天風呂), die sich gleich an das Innenbad (内風呂) von Unterkünften wie Hotels oder Ryokans anschließen. Es gibt auch spezielle Badeeinrichtungen mit Freiluft- und Innenbad, jedoch ohne Übernachtungsmöglichkeiten. Dort kann man nur baden, sich ausruhen und manchmal auch etwas essen. All diese Bäder sind fast immer sehr gut ausgestattet. Seife und Shampoo stehen bereit. Haartrockner gibt es ebenfalls. Auch Handtücher kann man oftmals für eine geringe Gebühr ausleihen. Der Badegast braucht also so gut wie nichts mitzubringen. Nachdem er seine Wertsachen in einem Schließfach in Sicherheit gebracht und seine Kleidung und eventuelle Kosmetikartikel in einem Korb abgelegt hat, kann er splitternackt ins Bad gehen. 

Normalerweise sind die Freiluftbäder mit Hecken oder Bambuszäunen gut abgeschirmt, so dass Schaulustige von außen nicht sehen können, wie die Leute dort nackt baden. Natürlich sind die Bäder von Männern und Frauen getrennt. 

An einigen wenigen Orten gibt es jedoch Bäder, die sozusagen in der ‘Wildnis’ gebaut wurden, dort wo durch vulkanische Aktivität Gas und Dampf ausgespieen wird. Sie liegen in größerer Höhe an Berghängen und sind weder abgeschirmt noch haben sie irgendwelche Annehmlichkeiten. Sie sind im Prinzip nichts weiter als ein ausgegrabenes Loch, das mit Brettern ausgeschalt wurde.

Gleich vier solcher ‘Badewannen’ kann man in den Renge Thermalquellen in der Niigata Präfektur (新潟県) finden. 

   

Ich habe mir die Bäder angesehen, hatte allerdings nicht den Mut, mich darin längere Zeit nackt auszustrecken. Denn wer weiß, wer da plötzlich auftaucht! Beim Baden und Entspannen möchte ich doch ruhig sein können und die Gewissheit haben, dass mich niemand unerwartet aufschreckt.  

 Ein Mann in der Badewanne "Goldenes heißes Wasser (黄金の湯)".
Jede Wanne hat ihren eigenen exotischen Namen!


Bären - 熊

2014-08-17 | Bergwandern

Ausgestopfter Braunbär (ヒグマ)
War 10 Jahre alt und 320 kg schwer. Soll bis zu 2.7 m Höhe erreicht haben, wenn er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. 

Ich muss meine eigenen Erfahrungen machen, sonst werde ich nicht klüger und weiser und auch nicht demütiger. Erzählungen anderer Leute oder Berichte in den Medien sind für mich nur Informationen, also nichts weiter als abstrakte Theorien. Solange ich das, von dem da erzählt und berichtet wird, nicht selbst erlebe, glaube ich in meiner Unerfahrenheit (Arroganz), dass es mich nichts angeht und nichts mit meinem Leben zu tun hat. Diese Gemütsverfassung kann man vielleicht am besten an sich beobachten, wenn man von Krankheiten anderer Leute hört. Man sieht, wie viele Menschen um einen herum erkranken, leiden und sterben, kann sich aber nicht vorstellen, dass es einem auch einmal so ergehen könnte. Man glaubt irgendwie, immun zu sein und außerhalb dieser Dinge des Lebens zu stehen.

Bei Wanderungen unterhalb der Baumgrenze haben viele Bergwanderer eine kleine Glocke am Rucksack hängen, die bei jedem Schritt bimmelt. Manche Alleingänger haben als Geräuschquelle das Radio laut an. Das sind Maßnahmen, um Bären frühzeitig zu warnen und den Tieren die Gelegenheit zu geben, von selbst vor den Wanderern die Flucht zu ergreifen und schnell wieder im Wald oder Gestrüpp zu verschwinden. Denn wenn ein Bär ganz unerwartet auf einen Menschen stößt, kann er sehr überrascht sein und sich bedroht fühlen, was ihn dazu veranlasst, den Menschen anzugreifen. Wenn es sich um eine Bärenmutter mit ihren Jungen, die beschützt werden müssen, handelt, ist die Angriffslust noch stärker.

Früher habe ich mich über solche Bergwanderer lustig gemacht. Ich habe sie mit ihrem Gebimmel und lautem Radiogeplärr ein bisschen verspottet. Meine hochnäsigen Gedanken gingen in etwa so: “Die übertreiben. Die spinnen. Bären gibt es hier nicht. Die sollten mit dem Krach aufhören und die Ruhe der Natur genießen. Das Gebimmel kann einem wirklich auf die Nerven gehen.”

So habe ich gelästert, bis ich 2005 zum ersten Mal in Hokkaido im Koiboku Kar (kesselförmige Eintiefung am Berghang unterhalb des Gipfels) des Kamuieku-uchi-kaushi-yama (カムイエクウチカウシ山,Hidaka Gebirge) einen Braunbär gesehen habe. Er graste in weiter Ferne tief unten im Kar. Dieses Bild und die Stille damals haben mich tief bewegt. Die Entfernung war so groß, dass der Bär nicht aufmerksam wurde. Ich habe mich in keiner Weise bedroht gefühlt. Aber zum ersten Mal bekam meine Hochnäsigkeit einen Dämpfer. Es gibt also doch Bären. Es besteht also doch die Möglichkeit, diesen Tieren einmal zu begegnen. 

Bär im Koiboku Kar des Kamuieku-uchi-kaushi-yama (Hidaka Gebirge, Hokkaido)

Danach habe ich öfter Bären gesehen. Eine Gruppe von drei Bären unterhalb des Yoichidake (余市岳, Hokkaido) Gipfels war ebenfalls ein beeindruckendes Schauspiel. Als ich meinen Fotoapparat endlich aus dem Rucksack herausgeholt hatte, waren zwei der Tiere leider verschwunden.

Bär unterhalb des Yoichi-dake Gipfels (Hokkaido) 

Nicht nur in Hokkaido, auch überall auf Honshu leben Bären, allerdings keine Braunbären, sondern Schwarzbären mit einer sichelförmigen weißen Fellfärbung auf der Brust, woher ihr Name ‘Mondbär’ (ツキノワグマ) kommt. Manchmal laufen sie einem beim Autofahren durch größere Waldgebiete über den Weg. Wenn sie das Auto bemerken, huschen sie ganz schnell wieder in den Wald. Im Auto fühlt man sich natürlich sicher. Trotzdem bleibt die Frage: “Was hätte ich getan, wenn ich nicht im Wagen gesessen, sondern zu Fuß gegangen wäre? Hätte ich die Ruhe und Nerven gehabt, mich richtig zu verhalten?” 

Man soll einem Bär nicht den Rücken zukehren und wegrennen, da es Bärenart ist, das zu verfolgen, was wegläuft. In den Büchern steht, dass man einem Bär fest in die Augen schauen und sich rückwärtsgehend ganz langsam entfernen soll. Sollte der Bär dennoch nicht weggehen und auf einen zukommen, soll man ihm den Rucksack oder etwas anderes hinwerfen, um ihn abzulenken. Das Beste ist aber immer noch, einem Bär erst einmal überhaupt nicht zu begegnen. Und das geeignetste Hilfsmittel, ein Zusammentreffen zu vermeiden, ist eben die Glocke, die bei jedem Schritt bimmelt. 

Auch ich habe mir, nachdem mir nun endlich klar geworden ist, dass man überall auf Bären stoßen kann, eine Glocke zugelegt und bimmle nun wie die Wanderer, die ich früher verlacht habe. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle entschuldigen.
“Liebe Wanderer, bitte verzeiht mir. Ein Grund meiner Hochnäsigkeit war mangelnde Erfahrung. Und überhaupt ist es unschön und ungut, andere zu verlachen. Das zeugt von Arroganz und wenig Vorstellungsvermögen und ist keineswegs mit Unerfahrenheit zu entschuldigen.” 

Wenn ich meine Glocke einmal vergessen habe, hohle ich manchmal meine kleine Pfeife, die ich immer bei mir habe, heraus. Dann pfeife ich in Abständen, um auf diese Art den Tieren im Wald mein Kommen anzukündigen. 

Und nun vor zwei Tagen, auf der 20 km langen asphaltierten Straße von Hiraiwa (平岩) bis zu den Renge Thermalquellen (蓮華温泉) in der Niigata Präfektur (新潟県). Was sehe ich da? Ein schwarzer Bär grast ganz friedlich und gemütlich am Straßenrand. Um zu verhindern, dass die Straße mit Gestrüpp überwuchert, wurden die Streifen links und rechts gemäht. Auf diesen gemähten Flächen sind frische Sprösslinge hervorgekommen. Die müssen dem Bär wohl besser schmecken als die schon alt gewordenen Pflanzen im Wald. Zum Glück hatte ich den Fotoapparat im Handschuhfach. So nahe habe ich einen Bär in der Natur noch nie gesehen. Ich war bewegt und begeistert. Als der Bär das Auto wahrnahm, ist er langsamen Schrittes im Dickicht verschwunden. Nichts, aber auch gar nichts war mehr von ihm zu sehen, als wir an der Stelle, wo er graste, mit dem Auto vorbeifuhren. Er war wie vom Erdboden verschwunden.

Straße Hiraiwa - Renge Thermalquellen (15. August 2014)


Sommer

2014-08-07 | Alltag

Nach der Regenzeit kommt die Hitze, ganz plötzlich von einem Tag auf den anderen. Die Hitze ist gnadenlos, weil sie nie nachlässt. Tag für Tag liegen die Temperaturen um die 33°, mancherorts steigen sie bis auf 37° oder sogar noch höher an. Wo man auch hintritt, es ist heiß und stickig. Selbst die Nächte bringen wenig Kühle. Wenn die Temperaturen nachts nicht unter 25° sinken, spricht man von einer tropisch heißen Nacht.

Aber die japanischen Sommer haben eine besondere Atmosphäre. Morgens, sobald es hell wird, und abends mit Einbruch der Dämmerung fangen die Zikaden und viele andere Insekten an, in schrillen Tönen ihr Konzert zu machen. In Parkanlagen kann man sie auch am Tage hören.

An Wochenenden ist bei offenem Fenster oft in der Ferne die Musik zum Bon-Tanz (盆踊り), der vielerorts veranstaltet wird, vernehmbar. Diese Musik hat etwas ganz Besonderes an sich. Ihre Klänge kann man nur an heißen Sommerabenden hören. Frauen und Kinder erscheinen in bunten Yukatas zum Tanz.

Mitte August ist Obon (お盆), ein religiöses Fest, an dem die Seelen der verstorbenen Ahnen zurückkehren. Heute ist Obon zu einem Familienfest geworden. In diesen Tagen fahren die Menschen aus den Großstädten in ihre Heimatorte, um Verwandte und die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen. Gleichzeitig haben sie dabei ihren Spaß. Wenn man in den Obon Tagen mit dem Auto unterwegs ist, bieten sich einem Bilder von Familien, die in Flussbetten unter aufgespannten Zeltplanen beim Grillen zusammensitzen und Kindern, die im seichten Flusswasser spielen. 

Leider ist der japanische Sommer auch eine Zeit der Katastrophen. Taifune, sintflutartige Regenfälle, Überschwemmungen, reißende Flüsse und Erdrutsche sind nichts Seltenes. Und wehe dem, der diese Naturgewalten unterschätzt und glaubt, mit “Technik” dagegen ankommen zu können.

Vor ein paar Tagen wurde wieder von einem tragischen Ereignis berichtet. Eine vierköpfige Familie hatte auf einer größeren Sandbank eines Flusses im Tanzawa Gebirge ihr Zelt für zwei Nächte aufgeschlagen. Diese Sandbank war bei schönem Wetter mit einem Auto mit Vierrad-Antrieb erreichbar. Dann plötzlich gab es starke Regenfälle. Die Familie konnte sich wohl nicht gleich dazu entscheiden, die Sandbank zu verlassen. Erst nachdem das Wasser stark gestiegen war, hat der Vater Frau und Kinder ins Auto gesetzt und wollte ans Ufer des Flusses fahren. Die Strömung hat das Auto umgekippt und mitgerissen. Frau und Kinder sind ums Leben gekommen.

Bei solchen Nachrichten halte ich innerlich Zwiesprache mit mir und bete um Einsicht, damit wir bei unseren Touren in der Natur nicht auch irgendwann einmal falsche Entscheidungen treffen.