Ein Fragment - ohne Anfang und Ende
Miyuki – 美幸. Die Zeichen ihres Namens bedeuten schön und glücklich. Unter allem, was sie von ihren Eltern erhalten hat, gibt es nur weniges, was sie mag. Aber auf den Namen, den ihre Mutter für sie ausgesucht hat, ist sie stolz. Er gefällt ihr. Sie ist schön, wie ihr Name sagt, glücklich ist sie jedoch nicht.
Seit einiger Zeit denkt sie darüber nach, ob sie jemals mit einem Mann in Harmonie werde leben können. Bringen die Umstände ihrer Geburt es mit sich, dass sie sowohl in einer Beziehung zu einem Mann als auch in allem anderen, was sie macht, immer und immer wieder von düsteren, unfruchtbaren und eifersüchtigen Gedanken gequält wird? Wird sie es niemals schaffen, sich von der Vergangenheit, einer Kindheit ohne Mutterliebe, zu lösen? Oder stimmt es gar nicht, dass der Grund ihrer dunklen Gedanken und oftmals depressiven Stimmung in ihrer Vergangenheit liegt?
Miyuki hat geheiratet. Schon vor ihrer Ehe hatte sie mit ihrem zukünftigen Mann einige Zeit zusammengelebt. Etwas quält sie in letzter Zeit. Ist es Eifersucht? Ist es Neid? Oder vielleicht Angst?
Ihr Mann hat aufgehört zu arbeiten. Er ist zu Hause und schreibt Romane. Es scheint, als ob all seine Gefühle und Gedanken, die nicht zum Ausdruck kommen konnten, solange er Angestellter eines Verlags war, jetzt einen Ausgang gefunden haben. Miyuki kann das gut nachvollziehen. Sie arbeitet seit fast einem Jahr in einer ausländischen Firma und hat seit der Zeit das Gefühl, nicht mehr zu sich zu kommen, ihr ganzes Leben nur noch dem Unternehmen zu widmen. Von anderen Frauen wird sie beneidet. Sie hat eine gute Ausbildung, eine gute Anstellung, ein Gehalt, mit dem sie zur Not eine Familie ernähren kann. Sie reist öfter ins Ausland.
Aber sie kann sich mit den Zielen der Firma und dem Inhalt ihrer Arbeit nicht identifizieren. Sie fühlt, dass ihres berufliches Tun ihr fremd ist und keine Freude macht. Sie zeichnet Rechtecke in einen Bauplan, damit die Handwerker wissen, an welcher Stelle sie Löcher in den doppelten Boden bohren müssen, um die Leitungen für die Computer verlegen zu können. Im Prinzip ist es ihr egal, wo die Löcher hinkommen. So wie es ihr egal ist, wann der Hauptcomputer installiert wird. Sie telefoniert mit verschiedenen Firmen, treibt die Sache voran, weil es ein Teil ihrer Aufgaben ist. Sie fragt sich, weshalb ihr Arbeitgeber, eine ausländische Firma, mit Gewalt etwas in Japan aufbauen will. Der japanische Markt hat genug eigene Produkte, er braucht die ausländischen Erzeugnisse nicht. Das Unternehmen agiert jetzt schon seit zwei Jahren in Japan, hat jedoch noch keine Gewinne gemacht. Jeder Monat ist von Verlusten gekennzeichnet. Trotzdem soll weiter gemacht werden. An Rückzug denkt niemand. Miyuki könnte es noch verstehen, wenn Japan nach diesen Produkten lechzen, sie wirklich brauchen würde. Aber nein. Man will den japanischen Markt mit teuren Erzeugnissen erobern, die nur sehr schwer Annahme finden. Das Argument der Firma lautet: “Unsere Produkte sind gut. Deshalb kosten sie mehr.” Die Firma hofft, sich durch den Einzug in Japan weiter global auszubreiten, ein weiteres Stück der Welt zu erobern. Aber weshalb sich vergrößern und weitere Märkte erschließen? Solche Ambitionen liegen Miyuki fern. Ihr geht es um andere Dinge: ums Wohlsein, um innere Ausgeglichenheit. Sie ist mit Wenigem zufrieden. Sie weiß, dass sie sich ihre Zufriedenheit nicht an den Wochenenden mit dem monatlichen Gehalt erkaufen kann. An Wochenenden ist sie müde, fühlt sich so schlapp, dass sie nicht einmal ausgehen mag. Sonnabend, Sonntag ist sie fast immer zu Hause, schläft viel, hofft, dass sich die Spannungen in den Schultern und im Nacken lösen, denn während der Woche muss sie wieder funktionieren.
Ihr Mann lebt jetzt seine Vergangenheit auf dem Papier, in seinen Romanen aus. Miyuki wirft manchmal ganz kurz, wenn er nicht da ist, einen Blick auf sein Manuskript. Da ist auch viel von Sex die Rede. Das hat sie tief berührt, betroffen. Sie fragt sich: Ist das Fiktion? War das einmal Wirklichkeit? Welche Frau schwebt seiner Vorstellung vor, welche Frau ist vor seinem inneren Auge, wenn er über Sex schreibt?
Seit zwei Monaten haben Miyuki und ihr Mann häufigeren und besseren Sex miteinander als in den ersten drei Jahren ihrer Beziehung. Miyuki war manchmal enttäuscht, dass ihr Mann nur selten nach ihr verlangte. Sie hatte, bevor sie ihn kennenlernte, eine Beziehung zu einem Mann, durch den sie zum ersten Mal die Freuden des Liebesspiels kennengelernt hat. Er war neurotisch, wollte eine Frau durch Sex besitzen und an sich binden. Das ist ihm gelungen, denn die Trennung von ihm war für Miyuki wahnsinnig schmerzhaft, fast körperlich schmerzhaft. Sie hatte damals das Gefühl, dass ihr ein Teil ihres Körpers genommen wurde.
Miyuki wusste, welche Möglichkeiten es in der Liebe gibt. Sie will auch mit ihrem Mann einen besseren, raffinierteren, ekstatischen Sex haben. Ganz unbewusst möchte sie ihn dadurch an sich fesseln, die Bindung zwischen ihnen unauflösbar machen. Sie hat ihm gesagt, dass sie mehr möchte. Und es ist besser geworden. Es gibt Momente, in denen sie sich glücklich fühlt, überwältigt ist. Aber gleichzeitig durchfährt sie eine tiefe Trauer und Eifersucht, dass ihr Mann beim intimen Verkehr an eine andere Frau, an die Frau aus seinem Roman denken könnte. Das Glück in Miyukis Herzen ist zerbrechlich wie feines, dünnes Glas. Hauchdünn, stets mit einer Spur von Trauer und Eifersucht vermischt. Kommt das daher, dass Miyuki in ihrer Kindheit nie Liebe empfangen hat? Von ihrer Mutter wurde sie immer zurückgewiesen.
Ihre Mutter vermied den körperlichen Kontakt zu ihrer Tochter. Miyuki wollte mit ihr schmusen und spielen, sie frisieren, kämmen und schön machen. Aber die Mutter hat sie zurückgestoßen: “Lass mich.” Mit diesen Worten ist die Mutter aus dem Zimmer geflüchtet.
Miyuki ist als ungewolltes Kind zwischen Eltern zur Welt gekommen, die sich nicht geliebt haben. Der Vater hat die Mutter verletzt, tödlich verletzt, hat den Grundstein dafür gelegt, dass die Ehe ihrer Eltern unglücklich wurde. Er hat die Mutter, damals noch nicht zwanzig aber trotzdem schon geschieden mit einem kleinen Sohn aus der ersten Ehe, geschwängert und dann von ihr verlangt, dass sie das Kind abtreibt. Die Mutter hat es wegmachen lassen, aber ihr Instinkt wollte das Kind behalten. Sie wünschte sich, dass der Vater es mit Freuden annimmt und sie heiratet. Das hat er nicht getan. Die Mutter war so verletzt, dass diese Beziehung nie mehr gut werden konnte. Dennoch, sie haben sich nicht getrennt und die Mutter wurde nach kurzer Zeit ein zweites Mal von ihm ungewollt schwanger. Es war Miyuki. In so kurzem Abstand war es nicht möglich, eine erneute Abtreibung vorzunehmen. Miyuki wurde ausgetragen. Die Eltern haben geheiratet, als sie vier Jahre alt war. Sie war bei der Trauung im shintoistischen Schrein dabei. Es gibt ein Foto, wo sie zusammen mit ihrem Halbbruder Hand in Hand vor dem Brautpaar steht. Die Mutter ist im weißen Hochzeitskimono, der Vater im Anzug. Die Eltern vor dem Shinto-Schrein scheinen ein Traumpaar zu sein, denn die Mutter war schön und jung, und auch der Vater sah gut aus. Es scheint, als ob die Welt heil wäre und dort ein glückliches Paar steht.
Aber der Vater hat der Mutter wieder weh getan, weil er ihren Sohn aus erster Ehe nicht anerkennen und ihm nicht seinen Namen geben wollte. “Wer weiß, was aus dem wird.” So lauteten seine Argumente.
Februar 1988